Modelle können Überraschendes zur menschlichen Leberfunktion vorhersage

Wechselwirkungen und äußere Einflüsse aufdecken

Der theoretische Biophysiker Dr. Matthias König, LySiM Junior Group Leader vom Institut für Biologie und Theoretische Biologie der Humboldt Universität in Berlin, modelliert die menschliche Leber am Computer. Seine Simulationen helfen, etwa individuelle Unterschiede in der Leberfunktion und äußere Einflüsse darauf zu quantifizieren. In Therapien können damit Dosierungen optimal angepasst werden. Messwerte erhalten mehr Aussagekraft. „In diesen Modellen steckt viel Potenzial“, sagt König. Eines davon hat aufgedeckt, dass Rauchen die Ergebnisse im LiMAx Leberfunktionstest verändert. Eine extra initiierte klinische Studie soll den Befund untermauern.


LiMAx – Test zur Leberfunktionskapazität (liver maximum capacity). Zum Einsatz kommt er besonders bei Fragen rund um chirurgische Eingriffe an der Leber und, um die Schwere von Lebererkrankungen zu bestimmen.
FAIR – Richtlinien für das Management wissenschaftlicher Daten, so dass diese auffindbar, zugänglich, interoperabel und wieder verwendbar sind.
SBML – ist ein standardisiertes Datenaustauschformat (von Engl. Systems Biology Markup Language) für Modelle biochemischer und biologischer Netzwerke.


„Wie stark die Ernährung und der Lebensstil den Leberstoffwechsel beeinflussen, ist extrem spannend“, sagt König. In Leberzellen erledigen Enzyme beispielsweise den Abbau von Nikotin und Koffein. Allerdings induziert Nikotin das Enzym, das Koffein abbaut. Das heißt, in der Anwesenheit von Nikotin nimmt die Menge dieses Enzyms zu. Dadurch beschleunigt sich der Abbau von Koffein, des belebenden Alkaloids aus Kaffee. „Je mehr jemand raucht, desto weniger wirkt Koffein“, bringt es König auf den Punkt. Möglicherweise versuchen Raucherinnen und Raucher, das unbewusst auszugleichen: Laut Erhebungen trinken Menschen, die rauchen, auch mehr Kaffee.

Solche Einflüsse und Wechselwirkungen zu erkennen und zu quantifizieren, ist ein Ziel seiner Modelle: „Viele Nahrungsmittel und Lebensgewohnheiten wirken sich auf die Aufnahme und Elimination von Medikamenten aus.“ Wenn Ärzte wissen, wie groß die Effekte sind, können sie darauf reagieren und Dosierungen entsprechend anpassen. Therapien würden erfolgreicher, Nebenwirkungen seltener. Ähnlich ließen sich individuelle Unterschiede in der Leberfunktion aus Testergebnissen herausrechnen. Sie bekämen höhere diagnostische Aussagekraft. Außerdem soll Königs Modell schlicht viele Funktionen der Leber möglichst präzise abbilden. Genaue Vorhersagen darüber, wie gut das Organ bestimmte Substanzen metabolisiert und was dabei eine Rolle spielt, erlaubt es jetzt schon.

Das Multiskalenmodell der Leber garantiert reproduzierbare Aussagen mit verschiedenen Simulatoren. Es ist ein wertvolles Werkzeug, um bestimmte dynamische Lebertests und ihre Ergebnisse zu validieren.

Am Anfang jedes Modells steht eine intensive Literaturrecherche. Weil Computer da kaum weiterbringen, suchen König und seine dreiköpfige Arbeitsgruppe quasi per Hand heraus, was sich über beteiligte Enzyme, Inhibitoren, Co-Faktoren und dergleichen finden lässt. „Das ist sehr arbeitsaufwändig“, sagt er, „Wir sammeln alles, das in den Gleichungen auftauchen muss.“ Dann gilt es, ein paar Grundregeln zu beachten, beispielsweise Sättigungseffekte bei enzymatischen Reaktionen. Die resultierenden Gleichungen lassen sich mit verschiedenen Strategien zu einer Grundvariante des Modells vereinen. „Die prüfen wir mit Trainingsdaten, die schon in ihre Entwicklung eingeflossen sind“, sagt König.

Danach fließen neue, reale Daten in Simulationen ein. Sie müssen die entsprechenden Prozesse und Ergebnisse möglicht exakt reproduzieren. „Daran zeigt sich die prädiktive Kapazität des Modells, seine Vorhersagekraft“, erklärt der Biophysiker. Zusätzliche Reaktionsgleichungen, Daten und Testläufe erweitern und verfeinern es. Die Möglichkeiten wachsen, aber ebenso die Komplexität, sagt König: „Die Anzahl der Gleichungen nimmt extrem zu!“


Modelle können die Aussagen von Lebertests verbessern

Modelle wie seines können die Bedeutung von Testergebnissen korrigieren: Allein danach beurteilt, funktionieren größere Lebern besser als kleinere. In denen sind aber nur weniger Enzyme am Werk. „Eine kleinere Leber arbeitet langsamer, aber auf die Größe bezogen nicht schlechter“, betont König. In Kooperation mit Ärzten von der Berliner Charité hat sein Modell einen Störfaktor im LiMAx-Lebertest identifiziert: „Es hat vorhergesagt, dass Rauchen einen Einfluss auf die Ergebnisse hat.“ Erste Stichproben scheinen das zu bestätigen. Zur Absicherung hat die Charité nun extra eine neue klinische Studie aufgelegt. „Das ist auch eine Bestätigung für unser Modell“, freut sich König; „Ich hoffe, die Studie verläuft erfolgreich.“

Schon Kleinigkeiten können mit entscheiden, was diagnostische Werte wirklich aussagen oder wie gut und lange Medikamente wirken. „Direkt nach dem Essen erhöht sich die Durchblutung der Leber und damit verändert sich ihre metabolische Leistung“, nennt König noch ein Beispiel. Leberfunktionen weichen durch die genetische Ausstattung individuell voneinander ab. Die Ernährung und der übrige Lebensstil verstärken diese Unterschiede teils noch. Darum wird König sein Modell weiter ausbauen. Er möchte 2er-, 3er-Kombinationen an Substanzen und größere Cocktails durchspielen können, um neue Wechselwirkungen und größere Zusammenhänge aufzudecken.


Fehlende Datenstandards machen enorm viel Arbeit

Zu Einzelstoffen und Wirkstoffkombinationen gibt es im LiSyM-Netzwerk reichlich Daten. Einen Großteil davon will König zusammenführen: „Mit publizierten Daten zu arbeiten, ist eine enorme und unterschätzte Herausforderung.“ Viele Datensätze sind lückenhaft, fehlerhaft oder formal unbrauchbar. „Standardisierungen würden uns extrem viel Arbeit ersparen“, sagt König. Nicht nur deshalb engagiert er sich für Datenmanagements nach den FAIR Richtlinien und für den SBML-Standard bei Modellen. Die erfordern noch einige Routinenaufgaben: Datensätze suchen, anpassen, nach Relevanz gewichten, ins Modell einbauen und für genug Rechenleistung viele Computer zu spezialisierten Clustern verbinden.

Es lohnt sich, findet der Fachmann: „Unsere Multiskalenmodelle haben das große Plus, alles abzubilden – vom einzelnen Enzym über die Gewebearchitektur und den Blutfluss bis hin zum ganzen Körper.“ Nach seiner Promotion in theoretischer Biophysik kehrte König von der Charité an die Humboldt Universität zurück. Dort hatte er vorher schon Biophysik studiert und leitet heute seine LiSyM Junior Group. Er hofft, dass seine Modelle irgendwann routinemäßig in der Prävention und Diagnose zum Einsatz kommen und, um zu überwachen, ob und wie gut Therapien anschlagen. „Computermodelle sind sehr nützliche Tools“, betont Matthias König: „Ich kann mir vorstellen, damit sogar einmal ein Start-up zu gründen.“

Zurück zu Junior Groups