Vom Labor mit Mathematik in die Klinik – technische Aspekte der Modellentwicklung
Mathematische Modelle von biologischen Systemen zu entwickeln, ist zeitaufwändig und wissenschaftlich anspruchsvoll. Doch nur auf diesem Weg erreichen viele experimentelle Ergebnisse die Patienten. Computerwissenschaftler Dr. habil. Dirk Drasdo vom systembiologischen Forschungsnetzwerk LiSyM erklärt einige technische Hintergründe. Der Experte für Simulationen beschreibt am Beispiel seines Lebermodells wie sich Chemie, Physik, Biologie, Pharmazie und Medizin in mathematische Gleichungen und Simulationen verwandeln.
Moderne, systembiologische und systemmedizinische Forschung kommt nicht ohne mathematische Modelle aus. Nur sie bringen experimentelle Ergebnisse verschiedenster Herkunft – etwa aus dem Reagenzglas, aus Zellkulturen und lebenden Organismen – sinnvoll zusammen. Wie aber geschieht das im Detail: Wie werden Vorgänge des Lebens zu Mathematik? Dr. habil. Dirk Drasdo beschreibt das anhand seines Lebermodells anschaulich. Komplexe, realitätsnahe Modelle zu entwickeln, ist auf interdisziplinäre stabile Forschungsnetzwerke wie LiSyM angewiesen. Drasdo hebt hervor, dass viel Aufwand in kompletten Modellen steckt, aber oft auch schon in einzelnen Teilen davon: „Für Teilschritte sind manchmal Tausende von Simulationen notwendig.“
Reaktionsgleichungen sind relativ einfach integrierbar
Komplexe mathematische Modelle setzen sich aus unzähligen Gleichungen zusammen. Die Veränderungen von Mengenverhältnissen der beteiligten Stoffe bei chemischen Reaktionen geben Reaktionsgleichungen an. Sie sind relativ einfach in mathematische Gleichungen umzuwandeln. Reaktionsgleichungen können weitere Angaben beinhalten, etwa ob Katalysatoren an Reaktionen teilnehmen. Darum lassen sich biochemische Reaktionen, die Enzyme katalysieren, ebenfalls als mathematische Gleichungen formulieren. So gehen Vorgänge in Modelle ein, die innerhalb einzelner Zellen ablaufen, etwa intrazelluläre Entgiftungsreaktionen. Ebenso können mathematische Gleichungen, die von chemischen Reaktionen abgeleitet sind, interzelluläre Prozesse widerspiegeln, beispielsweise den Austausch von Signalmolekülen, mit denen sich Leberzellen bei der Regeneration nach einer Paracetamol-Vergiftung untereinander abstimmen.
Nicht einmal alle Zellen eines Typs sind wirklich gleich
„Wir lösen diese Gleichungen in jeder Zelle eines simulierten Gewebes“, sagt Drasdo. Denn nicht einmal alle Zellen eines Typs entsprechen sich vollständig in den funktionalen Untereinheiten der Leber, den Leberläppchen. „Diese Subeinheiten sind zoniert“, erklärt Drasdo. Jedes Leberläppchen besitzt, vereinfacht ausgedrückt, eine äußere, periportale Zone, eine innere, perizentrale und manchmal sogar noch weitere. „Je nach Zone haben Hepatozyten unterschiedliche Enzymausstattungen“, erzählt der Forscher, „Dabei können sogar die Aktivitäten der Enzyme je nach genauer Zellposition und anderen Einflüssen variieren.“ Zum Teil verwenden Hepatozyten eines Leberläppchens daher verschiedene Stoffwechselwege. Darum führen viele toxische Stoffe zu charakteristischen Schadensmustern in der Leber. „Nach einer Vergiftung mit hohen, aber nicht sehr hohen Dosen von Paracetamol sterben nur perizentrale Hepatozyten“, nennt Drasdo ein Beispiel. Einzig in diesen Zellen setzen Enzyme des Cytochrom-P450-Systems Paracetamol zu N-Acetyl-p-benzochinonimin (NAPQI) um, das die Hepatozyten schädigt. Dagegen entstehen in periportalen Hepatozyten keine toxischen Stoffwechselprodukte beim Abbau von Paracetamol.
Chronologische Schnittbildserien zeigen, wie schnell Gewebe abstirbt
In Geweben können Forscher solche Enzyme und andere Proteine mit Antikörpern markieren. Dann lassen sich an Gewebeschnitten häufig Unterschiede in der räumlichen Verteilung erkennen und die Dynamik vieler Prozesse an zeitlichen Bildfolgen. „Mit chronologischen Serien von Gewebeschnittbildern können wir beispielsweise messen, wie viele Zellen in welcher Zeit nachwachsen“, sagt Drasdo. Anhand von Bildserien kann er auch den Gewebeniedergang in der Leber nach Vergiftungen quantifizieren: „Dazu werten wir Aufnahmen und Clips aus bildgebenden Verfahren mit algorithmischen Verfahren quantitativ aus.“ Moderne intravitale bildgebende Verfahren erlauben es Forschern sogar, kurze Filme von einigen Prozessen in lebenden Geweben zu machen. Aus solchen Filmen lassen sich etwa Fließgeschwindigkeiten von Blut und Galle berechnen.
Bei Veränderungen der Zellform bekommt jeder Oberflächenpunkt eine eigene Gleichung
Die Simulation von Zellen und Geweben geht also weit über die Lösung von Reaktionsgleichungen hinaus. Sie bilden nur die chemisch dominierte Seite, Bewegungen und Dynamik die zweite, physikalisch dominierte. „Wir stellen das Gewebe auch räumlich in seiner Architektur und Dynamik dar und ähnlich realistisch wie Spielfiguren und ihre Umgebung in modernen Computerspielen – allerdings nicht als Animation, sondern als Simulation“, sagt Drasdo. Außer Gewebeprozessen umfasst sein Modell ebenfalls die aktiven und passiven Bewegungen einzelner Zellen, wie etwa Deformation durch äußere Einflüsse, durch Wachstum, Teilung und Untergang. Punkte auf der Zelloberfläche verbindet im Modell ein Gitternetz untereinander. Übt beispielsweise eine andere Zelle von außen Druck auf ihre Nachbarzelle aus, verformt sich deren Oberfläche am Kontaktpunkt am stärksten. Dort verformt sich auch das Gitter am meisten. Doch die Deformation reicht ja weiter. Daher überträgt das Gitternetz die Bewegung im Modell abgeschwächt auch auf die direkten Nachbarpunkte, noch etwas schwächer auf deren Nachbarpunkte und so weiter. „Wir müssen für jeden einzelnen Punkt auf der Zelloberfläche eine eigene Bewegungsgleichung berechnen“, erklärt Drasdo.
Modelle mit der Komplexität einer Mondrakete
Nicht zuletzt koppeln die Wissenschaftler die chemischen Reaktionsgleichungen mit den physikalischen Bewegungsgleichungen. Sie verknüpfen die molekularen Prozesse mit zellulären Formveränderungen durch innere oder äußere Einflüsse und mit den Vorgängen auf Gewebsebene. Durch jede Komponente steigt die Komplexität. „Die einer virtuellen Patientenleber wird letztlich mit der einer Mondrakete vergleichbar sein“, glaubt der Experte: Schon das derzeitige Lebermodell bildet über mehrere räumliche und zeitliche Skalen ab, wo genau und wie schnell welche Prozesse ablaufen, und wie sie mit der intra- und interzellulären Umgebung in Verbindung stehen. „In starren Diagrammen lassen sich diese Prozesse nicht darstellen – dafür sind sie zu umfassend, zu dynamisch und zu komplex“, sagt Drasdo.
„Langfristig steckt in Modellen enormer Mehrwert!“
Dieser zweite, riesige Vorteil, nämlich dass Modelle hohe Komplexität meistern, bedingt einen Nachteil: „Um sie aufzubauen, braucht man Standvermögen!“ Jede winzige Ergänzung, jede neue Komponente kann hohen Aufwand verursachen. „Manchmal sind Tausende von Simulationen mit Teilsystemen notwendig“, sagt er. Darum braucht Modellentwicklung einerseits langfristige und solide Förderung sowie andererseits größere Kooperationen oder Forschungsnetzwerke wie LiSyM. Die Daten für Drasdos Modell kommen aus vielen Spezialdisziplinen: von Fachleuten für Zellstoffwechsel, für mechanische Zelleigenschaften, Signaltransduktion, Blutfluss… Der Aufwand lohnt, hebt Drasdo hervor: „Langfristig steckt in den Modellen ein enormer Mehrwert!“
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