Mathematische Modelle hält LiSyM Direktor Professor Dr. med. Peter Jansen für unverzichtbar zur Erforschung biologischer Systeme.
„Mathematische Modelle sind heute in systemischer Forschung absolut unverzichtbar“, betont Professor Dr. med. Peter Jansen. Der niederländische Medizinprofessor ist Direktor von LiSyM. Das interdisziplinäre deutsche Forschungsnetzwerk untersucht die Leber auf allen Ebenen. LiSyM will das Organ in seiner Gesamtheit verstehen, hauptsächlich um mehr über die metabolische Lebererkrankung NAFLD zu erfahren. „Dazu brauchen wir selbstverständlich auch Experimente“, sagt Jansen, „Aber ohne mathematische Modelle bringen uns experimentelle Ergebnisse wesentlich schlechter voran.“ Umgekehrt steigt der Wert der Resultate: Sie führen schneller zu neuen Tests für Vorbeugung, Diagnostik und Monitoring sowie zu neuen Ansätzen für Therapien. Langfristig können mathematische Modelle das Leben vieler Leberpatienten verbessern oder retten.
Nur Modelle erfassen die Dynamik und Komplexität
Biologische Systeme wie die Leber sind hoch komplex. „Zwischen verschiedenen Zellen und Zelltypen finden auf verschiedenen Ebenen alle möglichen Wechselwirkungen statt“, sagt Jansen, „Das ist extrem kompliziert, auch weil die Kommunikation der Zellen über alle Skalen hinweg verstehen wollen.“ Als Standard, um biologische Systeme zu veranschaulichen, dienten lange Schautafeln und Grafiken mit Formeln, Zahlen, Pfeilen und anderen Symbolen. Solche Tafeln werden unübersichtlich, wenn sie viele Wechselwirkungen auf mehreren Hierarchieebenen wiedergeben. In der Regel vereinfachen Schautafeln darum stark oder präsentieren nur Ausschnitte. Mathematische Modelle können komplette Systeme nachbilden und dennoch Übersichtlichkeit bieten: Hier haben Wissenschaftler die Möglichkeit, Details als Teile eines Ganzen hervorzuheben – einzelne Reaktionsketten, Signalwege, Hierarchieebenen oder andere.
Weiter sind biologische Systeme hoch dynamisch, so Jansen: „Wenn man die Aktivität eines Enzyms beeinflusst, beeinflusst man gleichzeitig andere Enzyme.“ Sobald sich in den dichten Geflechten aus Interaktionen auf mehreren Ebenen nur eine einzige Reaktionsgeschwindigkeit oder ein anderer Parameter ändert, reagiert das System an mehreren Stellen darauf. Doch Schautafeln sind statisch. Dagegen reagieren in simulierten Systemen, die auf mathematischen Modellen basieren, alle betreffenden Stellen, sobald sich Parameter ändern. Der Dynamik und Komplexität biologischer Systeme werden derzeit nur mathematische Modelle mit ihren Computersimulationen gerecht.
Die Wurzeln reichen 100 Jahre zurück
Dass Computer erheblich zur Systemforschung beitragen können, ahnte der britische Mathematiker Alan Turing Mitte des 20. Jahrhunderts. „Er hat 1952 ein fantastisches Manuskript über die Morphogenese in der Natur veröffentlicht“, erzählt Jansen. In der wegweisenden Publikation „The Chemical Basis of Morphogenesis“ schlug Turing als chemische Grundlage der biologischen Musterbildung einen einfachen Reaktions-Diffusions-Prozess vor. Der heißt noch heute „Turing-Mechanismus“ und die Muster, die aus ihm hervor gehen, „Turing Strukturen“. Zu ihnen zählen etwa die Flecken auf Fellen von Giraffen und Geparden, die Streifen der Zebras und Tiger, die Regelmäßigkeit der Zähne von Alligatoren, aber ebenso die Wachstumsstrukturen von Neuronen.
Turing hatte bereits in den 1940ern analoge Computer erfunden. Mit ihnen konnte er die deutsche Nachrichtenverschlüsselungsmaschine „Enigma“ knacken. Doch der Brite erkannte auch die Grenzen seines analogen Rechners. In dem Fachartikel von 1952 spekulierte er: Wahrscheinlich könnten nur schnellere, digitale Computer solche mathematischen Gleichungen lösen, die zur Darstellung der komplexen biologischen Systeme notwendig sind. „Turing ist einer meiner persönlichen wissenschaftlichen Helden“, sagt Jansen. Der erste Biomechaniker war Turing allerdings nicht. Als der gilt üblicherweise sein Landsmann D’Arcy Wentworth Thompson. Der Mathematiker und Biologe beklagte schon 1917 in seinem Buch „On Growth and Form“, dass die Bedeutung mathematischer Gleichungen als Erklärung für Wachstumsstrukturen von Lebewesen stark unterschätzt sei.
„Alle biologischen Prozesse folgen bestimmten Regeln.“
Der Einsatz mathematischer Modelle beschränkt sich nicht auf Wachstumsprozesse. „Alle biologischen Prozesse folgen bestimmten Gesetzen!“, sagt LiSyM-Direktor Jansen. Spezialisten aus dem Netzwerk haben die Gesetzmäßigkeiten der Vorgänge und Veränderungen in der Leber als mathematische Gleichungen formuliert. „Ebenso können wir Parameter wie Reaktionsgeschwindigkeiten, Substratkonzentrationen und andere eintragen“, sagt Jansen. Mehrere hundert Gleichungen und Parameter sind bereits in Modelle von LiSyM eingeflossen. Und sie wachsen ständig weiter: Die systemische Leberforschung von LiSyM liefert permanent neue Daten. Parallel bereiten Fachleute bestehende Daten derart auf, dass sie sich ebenfalls integrieren lassen. So finden alle relevanten experimentellen Ergebnisse Eingang in LiSyM-Modelle. Sie werden mit jedem Datensatz umfassender und präziser.
Heterogene Daten ergeben ein stimmiges Abbild
Allerdings liefert interdisziplinäre Systemforschung wie in LiSyM sehr verschiedenartige Daten. Das Netzwerk vereint viele wissenschaftliche Fachdisziplinen, in denen Wissenschaftler zum Teil andere Materialien verwenden: Sie machen etwa in vitro Versuche an Zellextrakten, in Kulturen mit verschiedenen Zelltypen, am Tiermodell, mit Gewebeproben von Patienten und nicht zuletzt klinische Studien. Obwohl die Skalen und Quellen so unterschiedlich sind, entsprechen sich Befunde vergleichbarer Experimente häufig. Ihre Aussagen ergänzen sich. Doch manchmal liegen die Ergebnisse so weit auseinander, dass Zusammenhänge kaum noch zu erkennen sind. „Mathematische Modelle können solche heterogenen Splitter sinnvoll verbinden und Lücken in unserem Wissen schließen“, erklärt Jansen. Die Computersimulationen zeigen Ähnlichkeiten zwischen Organismen und experimentellen Ansätzen auf, aber stellen auch ihre Unterschiede heraus.
„Mathematische Modelle eignen sich auch für bildgebende Verfahren“, fährt Jansen fort. Die Bilder aus der intravitalen Mikroskopie – der mikroskopischen Beobachtung lebender Zellen – und anderen modernen Imaging-Verfahren lassen sich mit anderen experimentellen Daten kombinieren. „Dadurch erhalten wir 3-D-Modelle von allen Ebenen der Leber“, erklärt Jansen, „Wir können erkennen, welche Reaktionen in welchen Leberzellen ablaufen. Denn die Funktionen der Leber sind räumlich organisiert.“ Auf andere Prozesse haben Wissenschaftler keinen Zugriff – beispielsweise die Dynamik des Gallenflusses durch das mikroskopisch kleine Netzwerk der Canaliculi in der Leber. „Diese Prozesse sind derzeit nicht experimentell erforschbar“, bedauert Jansen, „Da können wir im Moment leider gar nichts messen.“ Doch Imaging-Verfahren bilden die Vorgänge ab. Durch die Kombination dieser Daten mit anderen zu 3-D-Modellen konnten LiSyM-Fachleute neue Konzepte darüber entwickeln, wie die Leber Galle bildet und transportiert.
Erkenntnisse über experimentell unzugänglich Abläufe
Mathematische Modelle ermöglichen Erkenntnisse an Orten, die für Experimente nicht zugänglich sind und schonen Ressourcen. Je präziser sie arbeiten, desto mehr praktische Experimente können sie ersetzen. Das ist etwa relevant, wenn Forschungsmaterialien schwer erhältlich oder mit ethischen Bedenken sind. Die Gewebeproben von Patienten, mit denen LiSyM Forscher arbeiten, stammen meistens aus Biopsien. Diese kleinen eingriffe sind zwar risikoarm, aber eben nicht völlig risikofrei. Auch viele Versuche am Tiermodell lassen sich mit mathematischen Modellen umgehen. „Das ist auch eines unserer Ziele“, betont Jansen: „Die zuständigen Behörden wie die FDA und EMA sollte mathematische Modelle zur Prüfung neuer Medikamente zulassen. Die Ergebnisse sind mindestens eben so gut wie die aus Tierversuchen.“
Eine frühe und weitsichtige Entscheidung für die Modelle
LiSyM hat schon mit mathematischen Modelle gearbeitet, als Jansen 2015 die Direktion des Netzwerk übernahm: „Meine Vorgänger haben sie deutlich früher eingeführt – mit sehr viel Weitblick. Damals gab es dafür überhaupt keine Vorbilder!“ Wissenschaftlich hat sich der mutige Schritt laut Jansen inzwischen allemal gelohnt: „Die Modelle haben erheblich zu unseren Erfolgen beigetragen.“ Mit ihrer Hilfe konnte LiSyM nicht nur den Transport der Galle und Gallensäuren erhellen. Die Modelle zeigten beispielsweise auch, dass Alltagsdrogen wie Nikotin die Ergebnisse des verbreiteten LiMAx Leberfunktionstests verfälschen können, wie sich dieser Test verfeinern lässt oder wie sich Leberfunktionen durch Methylierungen teils epigenetisch in räumliche Zonen gliedern.
Der Aufbau von Modellen erfordert Kontinuität
Doch Systemforschung mit mathematischen Modellen stellt auch hohe Anforderungen: Um den Geltungsbereich und die Aussagekraft zu erhöhen, sind möglichst viele Daten aus vielen Quellen notwendig. Entsprechend braucht es Fachleute aus vielen wissenschaftlichen Disziplinen – und noch solche, die Biowissenschaften und mathematisches Modellieren verbinden. „Gerade an ihnen besteht ein riesiger Bedarf“, sagt Jansen, „Präzise und große Modelle, die alle Daten auf einem Gebiet verbinden, sind gerade so etwas wie der heilige Gral in der Systemforschung.“ Solche Modelle zu entwickeln, kostet aber einige Jahre. Dazu ist es erforderlich, interdisziplinäre Forschungsnetzwerke über längere Zeiträume sicher mit ausreichend Geldmitteln auszustatten. Dann werden mathematische Modelle noch schneller zu neuen Wirkstoffen führen, Ärzte bei Diagnosen und Therapien unterstützen sowie bedeutend zur Personalisierung in der Behandlung von Krebs beitragen, erwartet LiSyM-Direktor Peter Jansen: „Ich bin davon überzeugt, dass sich der Wert der Erforschung biologischer Systeme deutlich erhöht, indem wir mathematische Modelle einbringen.“