Einheitsdosierungen werden nur einigen Individuen gerecht

Menschen verarbeiten Medikamente unterschiedlich. Personalisierte PBPK-Modelle verbessern individuelle Dosierungen.

Das richtige Maß ist gerade in der Medizin entscheidend: Für den besten Heilungserfolg müssen medikamentöse Therapien bestimmten Konzentrationen an Wirkstoff im Blut erzielen. Mit empfohlenen Einheitsdosierungen gelingt das nicht immer, denn Patienten verarbeiten Medikamente unterschiedlich effizient. Im LiSyM-Forschungsnetzwerk hat Systembiologin Rebekka Fendt am zukunftsweisenden Prinzip des Model-informed precision dosing gearbeitet und Physiologie-basierte pharmakokinetische (PBPK) Modelle personalisiert: „Sie können optimale Dosierungen individuell genauer vorhersagen.“

Gute PBPK-Modelle spiegeln Körperprozesse detailliert wieder

„Physiologie-basierte pharmakokinetische Modelle haben den Anspruch, den kompletten Organismus widerzuspiegeln“, sagt Doktorandin Rebekka Fendt aus der Arbeitsgruppe von Professor Lars Küpfer. Die mathematischen Modelle enthalten alle Organe als virtuelle Container, die über einen modellierten Blutkreislauf miteinander verbunden sind: Ein gutes PBPK-Modell kann am Computer alle Prozesse im Körper detailliert durchspielen – beispielsweise nach der oralen Einnahme eines Wirkstoffs: Absorption im Darm, Verteilung über das Blut, Verstoffwechselung in der Leber, Transport zum Wirkort, Ausscheidung über die Nieren…

Grundsätzlich eignen sich PBPK Modelle laut Systembiologin Fendt besonders für virtuelle Studien, die Wechselwirkungen zwischen Medikamenten simulieren sollen oder spezielle Gruppen von Patienten: etwa solche, die schon Medikamente einnehmen oder geschädigte Lebern oder Nieren haben. Solche individuellen Besonderheiten müssen PBPK-Modelle dafür auch darstellen können. Noch arbeiten sie aber meistens mit Durchschnittswerten, so Fendt, „mit idealisierten DurchschnittspatientInnen“.

Nur die wenigsten Patienten sind durchschnittlich groß und schwer

Nur – die wenigsten Patienten sind durchschnittlich groß und schwer. Auch ihre Stoffwechsel arbeiten unterschiedlich effizient: Einheitsdosierungen werden nie allen Individuen gerecht, und das hat Folgen. Schnelle Stoffwechsel oder Wechselwirkungen können dazu führen, dass optimale Wirkstoffkonzentrationen nicht oder nur kurzzeitig erreicht werden. Dann ist ein optimaler Therapieerfolg nicht gewährleistet. Zuviel Wirkstoff kann Erkrankten wiederum schaden, besonders wenn noch die Leber oder andere Organe vorgeschädigt sind.

„In personalisierte PBPK-Modelle geben Ärzte individuelle Daten von Patienten ein und erhalten für jeden die optimal angepasste Dosis“, blickt Fendt in die nahe Zukunft. Das Konzept, individuelle Dosierungen über mathematische Modelle optimal abzuschätzen, heißt Model-informed precision dosing (MIPD). Fendt hat exemplarisch ein PBPK-Modell zum Koffein personalisiert. Die Substanz bot sich an, weil ihre Verstoffwechselung und Einflüsse darauf gut untersucht sind. Fendts Modell liefert personalisiert erheblich genauere Vorhersagen zur Verstoffwechselung von Koffein als die Durchschnittsdaten-Version.

Modelle mit Bedacht und Erfahrung entwickeln

„PBPK-Modelle sind mechanistisch“, sagt sie. Sie bilden ab, wie tausende Prozesse im Körper zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen. Das macht die Modelle hochkomplex, was einen Nachteil mitbringt: Sie benötigen eine breiten Datengrundlage. Wie gut sind Wirkstoffe wasserlöslich, wie gut binden sie an Plasmaproteine oder werden sie verstoffwechselt? „Wer keine eigenen Daten hat, muss die Literatur sichten“, sagt Fendt.

PBPK-Modelle basieren also weitgehend auf Messdaten, aber sie beinhalten darüber hinaus Hypothesen in Form von Abschätzungen und Anpassungen. „Unbekannte und nicht messbare Parameter müssen wir zwangsläufig schätzen“, sagt Fendt. Ebenso sind manche gemessene Werte, etwa in vitro Resultate, zu „fitten“, wie das Parameterschätzen heißt. Dazu dienen teils etablierte Berechnungsformeln, teils Logik und Erfahrung. Fendt hat die Parameterschätzungen, das Erstellen des Modells und die Simulation mit einer Modellierungs-Software durchgeführt, die online verfügbar ist.1 Auch bei anderen ModelliererInnen steht am Ende hoffentlich ein Modell, das Stoffwechselprozesse plausibel abbildet. „Im Idealfall gibt es dafür noch klinische Patientendaten“, so Fendt. Damit lassen sich Modelle evaluieren – die Genauigkeit ihrer Aussagen bewerten.

Virtuelle Zwillinge repräsentieren reale, individuelle Probanden

„Die Qualität meines Modells zu bestimmen, war auch für mich die größte Herausforderung“, kommt Fendt auf ihr Projekt zu sprechen – das personalisierte PBPK-Modell zum Koffeinstoffwechsel: „Ich hatte den großen Vorteil, Daten aus einer Studie zu haben.“ Kooperationspartner hatten am Institut für Klinische Pharmakologie des Robert Bosch Krankenhauses in Stuttgart gesunden Probanden einen Cocktail aus fünf niedrig dosierten Medikamenten und 50 Milligramm Koffein verabreicht. Im Blut maßen die Forscher anschließend über acht Stunden anhand von Koffein und dem Metaboliten Paraxanthin, wie effizient die Teilnehmer das Koffein abbauten.

Nachdem Fendt mit Durchschnittsdaten ein PBPK-Referenzmodell aufgebaut hatte und alle müßigen Anpassungsschritte erledigt waren, schuf sie für jeden echten Probanden einen virtuellen Zwilling. Mit ihnen hat sie ihr Modell stufenweise mehr und mehr personalisiert. Auf Stufe 1 unterschieden sich die virtuellen Zwillinge nur in den demografischen Daten ihrer realen Vorbilder – in Alter, Gewicht, Größe und Geschlecht. Jeden einzelnen Zwilling rechnete Fendts Modell durch: „Die Aussagen wurden eindeutig besser.“ Körpergröße und –gewicht haben Einfluss auf die Stoffwechseleffizienz, weil sie zum Beispiel mit der Lebergröße korrelieren. Bei den Geschlechtern hängen die Unterschiede mit der verschiedenen Körperfettverteilung und Muskelmasse zusammen. Nur das Alter veränderte nichts: Alle Probanden lagen zwischen 18 und 50 Jahren, wo selten altersbedingte Einschränkungen auftreten.

Die höchste Personalisierung liefert die genausten Vorhersagen

Auf Stufe 2 integrierte Fendt zusätzlich physiologische Daten aus Labortests: den Blutdurchfluss der Leber, die glomuläre Filtrationsrate GFR als Maß für die Nierenleistung und den Hämatokritwert. „Sie brachten aufgrund der Pharmakologie von Koffein keine Verbesserung“, sagt Fendt. In der Dosis, in der die Probanden Koffein erhielten, ist allein die Aktivität von CYP1A2 limitierend – die Geschwindigkeit, mit der dieses Enzym in der Leber Koffein zu Paraxanthin umsetzt.
Stufe 3 berücksichtigte neben Demografie und Physiologie noch die CYP1A2-Aktivität. Die ist nicht messbar. Fendt hat sie hergeleitet aus dem Verhältnis von Paraxanthin zu Koffein im Blut der einzelnen Probanden vier Stunden nach der Einnahme: „Die Verbesserung war noch deutlicher als mit den demografischen Daten.“ Für 23 der 48 Probanden ergab die Stufe-3-Personalisierung die genausten Aussagen zu ihrem jeweiligen Koffeinstoffwechsel.

Auch andere PBPK-Modelle sollten von Personalisierung profitieren

So konnte Fendt zeigen: Personalisierte PBPK-Modelle sind ideale Werkzeuge, um die Dosierung von Medikamenten genauer auf Individuen abzustimmen. Die Resultate sind inzwischen publiziert2. Als Fendt mit dem Promotions-Projekt bei der Bayer AG angefangen hat, war ihr Doktorvater Lars Küpfer noch Senior Researcher bei Bayer Technology Services in Leverkusen. Mittlerweile ist er Professor für Angewandte Mikrobiologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen und Fendt im Endstadium ihrer Doktorarbeit.
Personalisierte PBPK-Modelle wie ihres werden über kurz oder lang im klinischen Alltag ankommen. „Wie gut wird unsere Personalisierung auf weitere Systeme übertragbar sein?“, rätselt sie. Um wie viel präziser ließe auf vergleichbare Weise die Verstoffwechselung anderer Substanzen vorhersagen – möglichst von solchen mit hoher klinischer Relevanz? Ob an einer Universität, Hochschule oder in der Industrie, weiß Rebekka Fendt noch nicht: Aber irgendwo wird sie diesen Fragen mit neuen personalisierten PBPK-Modellen wohl auch künftig nachgehen.

1 : www.open-systems-pharmacology.org
2 : Fendt R, Hofmann U, Schneider ARP, Schaeffeler E, Burghaus R, Yilmaz A, Blank LM, Kerb R, Lippert J, Schlender JF, Schwab M, Kuepfer L. Data-Driven Personalization of a Physiologically Based Pharmacokinetic Model for Caffeine: A Systematic Assessment. CPT Pharmacometrics Syst Pharmacol. 2021 May 30. doi: 10.1002/psp4.12646. Epub ahead of print. PMID: 34053199.

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