Wir brauchen bessere Methoden zum frühzeitigen Erkennen einer Lebererkrankung
LiSyM Pillar IV entwickelt und verbessert Methoden, um Leberkrankungen in möglichst frühen Phasen diagnostizieren zu können. Pillar IV verfolgt einen integrativen Forschungsansatz. Er kombiniert mathematische Modelle des Leberstoffwechsels mit Daten aus etablierten klinischen Untersuchungen sowie aus zellbiologischen und molekularbiologischen Analysen von Leberzellen. So entstehen Computersimulationen, die den Funktionszustand einzelner Leberregionen darstellen. Ziel ist es, rechtzeitig sub-pathologische Veränderungen zu erkennen: Sie führen noch nicht zu eindeutigen Krankheitssymptomen, weil die Leber ihre Folgen noch ausgleichen kann. Zugleich zeigt die Anpassung der Leber aber an, dass bereits erste Schäden vorliegen.
Kinetisches Stoffwechselmodell – Der Stoffwechsel einer Zelle besteht aus tausenden chemischen Reaktionen, die von spezialisierten Proteinen (Enzymen) katalysiert werden. Die chemischen Umsatzraten bestimmen, wie viele Moleküle eines Stoffes pro Zeiteinheit eine chemische Reaktion bildet beziehungsweise verbraucht. Dies lässt sich mathematisch mit Differentialgleichungen beschreiben. Ihre Lösungen liefern mit Hilfe eines Computers die Stoffkonzentrationen zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Hepatozyten – Die Leberepithelzellen machen rund 80 Prozent des Lebervolumens aus. Sie übernehmen die meisten Stoffwechselaufgaben des Organs.
Proteomik – Das Proteom umfasst sämtliche Proteine, die in einer Zelle, einem Gewebe oder einem kompletten Organismus vorhanden sind. Als Proteomik bezeichnen Fachleute die Erforschung des Proteoms mit biochemischen Methoden. Für die Quantifizierung von Proteinmengen kommt häufig die Massenspektrometrie zum Einsatz. Die Proteine werden dabei zunächst in kleine Fragmente (Peptide) zerlegt. Diese werden im elektrischen Feld nach Masse und Ladung getrennt. Aus den so bestimmten Peptidmengen wird auf die Menge des zugrundeliegenden Herkunftsproteins geschlossen.
Elastografie – Ein Verfahren, das die Steifigkeit von Geweben misst. So lässt sich etwa feststellen, wie weit eine Fibrose, also Veränderungen im Bindegewebe, in der Leber fortgeschritten sind. Die Steifigkeit des Organs steigt an, wenn der Bindegewebsanteil zunimmt. Bei der dynamischen Elastografie erzeugen äußere Druckwellen im untersuchten Gewebe bestimmte Schwingungen. Sie breiten sich umso schneller und weiter aus, je steifer ein Gewebe ist.
NAFLD – Nichtalkoholische Fettlebererkrankung. Chronische Erkrankung der Leber durch hohe Fetteinlagerungen, für die Alkoholkonsum keine nennenswerte Rolle gespielt hat.
Unser Forschungsansatz
Grundlage der Forschung in Pillar IV ist ein komplexes Stoffwechselmodell, das die Arbeitsgruppe von Projektkoordinator Professor Hermann Georg Holzhütter am Institut für Biochemie der Berliner Charité in mehrjähriger Arbeit entwickelt hat. Das Modell simuliert den Stoffwechsel von Hepatozyten. Es stellt am Computer nach, wie diese Leberzellen hunderte verschiedener Stoffe chemisch umwandeln und mit welcher Geschwindigkeit die eng vernetzten Reaktionen ablaufen. Somit kann das Modell auch berechnen, wie schnell die Leber verschiedene Stoffe aus dem Blut aufnimmt, umwandelt beziehungsweise wieder an das Blut abgibt.
Jede der chemischen Reaktionen in der Leber wird von einem Enzym katalysiert, also angetrieben. Doch die Menge dieser Enzyme ändert sich in geschädigten Leberzellen. Entsprechend ändert sich auch der zeitliche Ablauf der Reaktionen. Diese Abweichungen kann das Stoffwechselmodell von Pillar IV ebenfalls darstellen. Dazu hat die Arbeitsgruppe von Dr. David Meierhofer vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (MPIMG) die Mengen der Enzyme in normalem und geschädigtem Lebergewebe bestimmt. Die Daten aus dieser sogenannten Proteomik sind in das Modell eingeflossen. Es kann nun auch vorhersagen, wie Schäden in der Leber die Dynamik des Stoffwechsels stören. Diese neuartige Methode der Funktionsvorhersage von Leberzellen haben wir in Pillar IV benutzt, um Stoffwechselveränderungen in der Leber von Kindern und Jugendlichen mit NAFLD sichtbar zu machen.
Diese pädiatrische Kohortenstudie betreuen Privatdozentin Dr. Susanna Wiegand und Oberarzt Dr. Christian Hudert am sozialpädiatrischen Zentrum der Charité. An Gewebeproben der jungen Patienten fand eine umfangreiche histologische Charakterisierung der Zellen statt. Weiter hat die Arbeitsgruppe von Professor Ingolf Sack am Institut für Radiologie und Kinderradiologie der Charité die Gewebeproben mittels Elastografie untersucht. Mit dem Verfahren lässt sich bestimmen, wie stark das Lebergewebe verfettet ist und wie viel davon sich schon in Bindegewebe umgewandelt hat. Somit konnte Pillar IV den Zusammenhang zwischen dem strukturellen Umbau des Lebergewebes und den mit dem Modell berechneten funktionellen Veränderungen im Stoffwechsel der Leber herstellen.
NAFLD von Kindern und Jugendlichen
NAFLD ist heute die am weitesten verbreitete chronische Lebererkrankung bei Kindern und Jugendlichen. Ihre Häufigkeit liegt in dieser Gruppe bei 5-10 Prozent. Fettleibigkeit (Adipositas) gilt als wichtigster Risikofaktor für NAFLD. In Deutschland hat sich der Anteil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher gegenüber den 1980er- und 1990er-Jahren um 50 Prozent erhöht. Oberarzt Hudert von der Charité betreut für seine Studie rund 80 junge NAFLD-Patienten – Kinder und Jugendliche im Alter von 10-18 Jahren: „Ihre Lebern weisen häufig schon einen hohen Grad an Fetteinlagerung und auch an Veränderungen im Bindegewebe auf.“ Allerdings, so Hudert, haben diese Veränderungen ein anderes strukturelles Muster als bei erwachsenen Patienten. Hier verfettet die Leber meist zuerst im Bereich der abführenden Zentralvene. „Bei jungen Patienten beginnt die Verfettung dagegen häufig in der Leberregion, wo das Blut über Arterie und Pfortader zufließt“, erklärt Hudert, „Die Unterschiede erklären sich möglicherweise daraus, dass die Leber von jungen Patienten noch wächst und Wachstumshormone starke Effekte auf ihren Stoffwechsel ausüben.“
Die Leber – zentrales Stoffwechselorgan des Menschen
Die Leber überwacht und regelt die Zusammensetzung unseres Blutes mit Nährstoffen sowie potentiell schädlichen Stoffen. Ein Teil des Traubenzuckers Glukose, den Menschen mit der Nahrung aufnehmen, speichert die Leber umgewandelt ab als Glykogen. Daraus kann sie im Hungerzustand wieder Traubenzucker freisetzen und den Organen zur Verfügung stellen. Wenn die Kapazität unseres Fettgewebes zur Fettspeicherung erschöpft ist, kann stattdessen die Leber erhebliche Fettmengen speichern. Ab einem gewissen Fettgehalt in der Leber sprechen Fachleute von einer Steatose, Fettleber oder Fettlebererkrankung. Die Leber nimmt auch fast alle Medikamente auf und baut sie chemisch um in eine Form, die der Körper ausscheiden kann. Das ist ein Teil der Entgiftungsfunktion der Leber. Dazu gehört auch, dass sie den giftigen Ammoniak, der beim Abbau von Eiweißen entsteht, in Harnstoff umwandelt. Den scheiden Menschen schließlich mit dem Harn aus. Ihre vielfältigen Aufgaben erfüllt die Leber auch dann noch, wenn sie bereits infolge einer Leberentzündung erheblich geschädigt ist. Das macht die frühzeitige Diagnose chronischer Lebererkrankungen so schwierig.
Kleine Änderungen in der Proteinausstattung der Leberzelle – große funktionelle Konsequenzen
„Mit Hilfe der hochauflösenden Massenspektrometrie können wir viele tausend verschiedene Proteine bestimmen und quantifizieren, viel mehr als bei traditionellen Verfahren“, sagt Dr. David Meierhofer vom MPIMG. Wenn er Proteine aus Zellen von jungen NAFLD-Patienten in verschiedenen NAFLD-Phasen massenspektrometrisch analysiert, zeigen sich nur bei wenigen Proteinen bedeutende Unterschiede in der Häufigkeit. Verwendet Meierhofer allerdings seine Proteomikdaten im Pillar IV Stoffwechselmodell, so ergeben sich viel deutlichere Unterschiede in der Leberfunktion.
Wie die Abweichung zustande kommt, erklärt Dr. Nikolaus Berndt, der federführende Wissenschaftler bei der Entwicklung des Modells und Mitarbeiter von Prof. Holzhütter: „Unser Modell macht sichtbar, dass viele geringfügige Änderungen auf Molekülebene im Zusammenspiel einen erheblichen Effekt auf die Funktion des Stoffwechselnetzwerks in der Leber ausüben.“ Berndt nennt ein Beispiel: „So sehen wir bei Kindern mit geringer bis mäßiger Leberfibrose noch keine Veränderungen in der Ammoniakentgiftung, bei denen mit fortgeschrittener Leberfibrose dagegen bereits eine deutliche Abnahme in der Entgiftungskapazität.“
Eindeutige Hinweise auf funktionelle Veränderungen in einer sehr frühen Phase einer nicht-alkoholischen Fettlebererkrankung
„Unsere Studie liefert erstmals eindeutige Hinweise darauf, dass funktionelle Veränderungen der Leber bereits in einer sehr frühen Phase der nicht-alkoholischen Fettlebererkrankung auftreten“, fasst Pillar IV Koordinator, Prof. Holzhütter, zusammen, „Wir können aufgrund der mathematischen Vorhersagen, die unser Modell zu Funktionsänderungen macht, den Schweregrad der Leberfibrose sogar genau so vorhersagen, wie er sich aus histologischen Zelluntersuchungen im Labor ergibt.“ Bisher basieren die Ergebnisse auf Daten aus Gewebeproben von Leberbiopsien. Das sind kleine operative Eingriffe. Deshalb besteht das nächste Ziel von Pillar IV darin, zunächst mit Computersimulationen zu überprüfen, ob die ermittelten frühzeitigen Funktionsänderungen durch einen einfach durchzuführenden Kapazitätstest sichtbar gemacht werden können. Ein solcher Test könnte darin bestehen, einen geeigneten „Cocktail“ verschiedener, durch die Leber abbaubarer Stoffe in das Blut des Patienten zu applizieren und deren Elimination aus dem Blut zeitaufgelöst zu verfolgen.